Infrastrukturen müssen krisenfester werden – Forschungsteam fordert mehr Aufmerksamkeit für resiliente Kommunikationstechnologien

Teilen

Wie kann unsere Gesellschaft auch in Krisen zuverlässig funktionieren? Das ist die Leitfrage des von der TU Darmstadt koordinierten Zentrums „emergenCITY“, an dem außerdem die Universitäten Kassel und Marburg beteiligt sind und das im Rahmen des hessischen Exzellenz-Programms LOEWE gefördert wird. Nun fordert ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Zentrums Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dringlich auf, digitale Infrastrukturen in der Praxis krisenfest zu machen. Derzeit sei das Risiko eines Ausfalls höher als gemeinhin gedacht, konstatiert das Autoren-Team in einem Policy-Paper.

Digitalisierung ist kein Trend, sondern ein gesellschaftlicher und technologischer Fakt. Sie umfasst nahezu alle Bereiche: Kommunikation, Gesundheit, Ernährung, Kultur, Mobilität sowie Energie- und Wasserversorgung. Die Konsequenz ist, dass die Gesellschaft von digitalen Infrastrukturen immer abhängiger wird – und deren potentielle Anfälligkeit durch Naturkatastrophen, Cyberangriffe oder technische und menschliche Fehler großen Schaden zufügen kann. Weltweit zeigen Naturkatastrophen wie die Hurrikan-Saison 2017 in den USA oder der komplette Stromausfall in Indonesien 2019, von dem mehr als 100 Millionen Menschen betroffen waren, wie schnell Netze zusammenbrechen und rettende Hilferufe nicht mehr möglich sind. Ein weiteres Beispiel ist ein Cyberangriff aus 2017: Die Schadsoftware „Wanna Cry“ hatte die Server der Deutschen Bahn befallen – und darüber hinaus Rechner in Krankenhäusern, Unternehmen und Privathaushalten lahmgelegt.

Auf Unvorhersehbares reagieren können
COVID-19 ist ein aktuelles Krisen-Beispiel dafür, wie stabil Infrastrukturen sein müssen, wenn von heute auf morgen viel mehr von zuhause gearbeitet und digital kommuniziert wird. Der Datenverkehr hat sich abrupt verschoben. Solchen Ereignissen müssen Netze flexibel gewachsen sein, damit hoch relevante Bereiche wie das Gesundheitssystem oder die Daseinsvorsorge nicht negativ davon betroffen werden. Denn fallen die Kommunikationsnetze aus, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kaskadeneffekten: Auch die Mobilität oder die Nahrungsmittelversorgung kommen ins Straucheln oder zum Erliegen: Sich selbst verstärkende Effekte treten ein. Umso fataler ist das, weil das menschliche Bedürfnis, während einer Krise zu kommunizieren, um ein Vielfaches ansteigt und das sonst so schnell gezückte Smartphone für den Hilferuf unbrauchbar wird.

Infrastrukturen für Informations- und Kommunikationstechnologie sind ohne Frage das Nervensystem moderner Gesellschaften. Was wäre, wenn die Systeme automatisch mit solchen Krisen und Ausfällen umzugehen wüssten? Das LOEWE-Zentrum „emergenCITY“, das an der Technischen Universität Darmstadt, der Universität Kassel und der Universität Marburg angesiedelt ist, forscht an resilienten Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Resiliente IKT soll in der Lage sein, mit Überlastungen, technischen Fehlern, Cyberangriffen, längeren Stromausfällen oder materiellen Schäden zurechtzukommen. Resilienz bezeichnet dabei die Fähigkeit eines Systems, Krisen zu absorbieren und sich von diesen zeitnah und nachhaltig zu erholen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von „emergenCITY“ empfehlen nun dringlichst, die Krisenresilienz unserer Infrastrukturen und damit der Gesellschaft nachhaltig zu erhöhen.

Resilienz heißt, für die Krise zu konstruieren
Die Forderung ist konkret und praxisbezogen: Energie- und Kommunikationsnetze müssen in einer Krise einen echten Notbetrieb und einen nahtlosen Übergang zurück zum Normalbetrieb unterstützen. Das erfordert ein radikales Umdenken bei der Konstruktion. IKT-Systeme folgen häufig gleichartigen Konstruktionsprinzipien mit ähnlichen Basiskomponenten wie Prozessoren oder Internet-Technologien. Der Einsatz verschiedener Komponenten, damit ein Konstruktionsfehler sich auch nur auf eine und nicht alle Komponenten auswirkt, bietet zusätzliche Stabilität. Die Systeme sollten so gestaltet sein, dass sie zusätzliche technische Ressourcen als Reserve bereithalten. Weiterhin muss ein System mit Spitzenlasten umgehen können, also muss es für den Krisenfall gerüstet und nicht ausschließlich für den Normalbetrieb konstruiert sein. Auf Kommunikationsnetze übersetzt bedeutet das: Festnetz, Mobilfunknetz und Satellitennetze müssen organisatorisch getrennt, mit heterogenen Komponenten voneinander betrieben werden und für mehr Last als im Normalbetrieb ausgelegt sein. Nur so wird es möglich sein, auch in der Krise zuverlässig zu kommunizieren.

Open Source bietet Flexibilität
Um zukunftsfähig zu sein, müssen IKT-Systeme funktional wandlungsfähig sein, um sich an eine Krise anzupassen. Ziel ist es, dass die Systeme in der Krise auch Aufgaben übernehmen können, für die sie ursprünglich nicht konstruiert wurden – hieran arbeitet insbesondere die Universität Marburg. Beispiel: Straßenlaternen mit genug Akkukapazität und nachgerüsteter Kommunikationsfähigkeit können als alternative Mobilfunkmasten dienen. Die Forschungsteams betonen weiterhin die Wichtigkeit digitaler Lösungen, deren Soft- und Hardware Open Source gestaltet sind. Die Systeme der Marktführer sind oftmals geschlossen und nicht weiter gestaltbar, weswegen passgenau modifizierbare Open-Source-Systeme das Mittel der Wahl sein sollten. Softwarebasierte Open-Source-Systeme bietet den Vorteil, dass sie schnell und kostengünstig ihre Funktionalität anpassen können.

Gemeinsam handeln und regulieren – auf allen Ebenen
Da „emergenCITY“ interdisziplinär arbeitet, sind auch Politikwissenschaften und – seitens der Universität Kassel – Rechtswissenschaften mit der nötigen Expertise an den Empfehlungen beteiligt: Die Transformation hin zu mehr Resilienz wird Aufgabe der europäischen, Bundes-, Landes- und lokalen Ebene sein und ist in der Umsetzung nur in Kooperation mit den Bürgerinnen und Bürgern lösbar. Dabei kommt die soziale Komponente nicht zu kurz: Verteilungsfragen werden von Anfang an mitgedacht. Soziale Ungleichheit darf bei der Bereitstellung von Ressourcen in Krisen keine Rolle spielen, denn resiliente Systeme sollen Allen dienen und nicht nur Wenigen.

Die Abhängigkeiten und Verflechtungen der privaten, wirtschaftlichen und politischen Akteure stehen im Fokus der Forschung und können helfen, eine übergreifende Koordination zu ermöglichen Denn die Mechanismen des Marktes allein sind nicht geeignet, um Resilienz und Effizienz gleichrangig zu gewährleisten. Der Grund ist, dass Anbieter eines effizienten, aber nicht resilienten Systems üblicherweise Wettbewerbsvorteile durch Kostenersparnisse realisieren können. Durch eine kluge Regulierung können jedoch Resilienzvorgaben gemacht werden, unter deren Einhaltung effizientes Wirtschaften nach Marktregeln trotzdem funktioniert.

Die aktuelle Krise um COVID-19 zeigt, dass eine funktionierende IKT für den Einsatz von Home-Office, medizinischem Datenaustausch und digitalen Kulturangeboten die Resilienz einer Gesellschaft signifikant erhöhen kann. Deutschland liegt international nicht im Spitzenfeld bei der Digitalisierung von Infrastrukturen und der öffentlichen Verwaltung. Um als führende Industrienation international wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen in den nächsten Jahren große Anstrengungen zur Erneuerung dieser Infrastrukturen unternommen werden. Infrastrukturen müssen dabei im Kern digital und resilient gedacht und in die Praxis umgesetzt werden.

Weitere Informationen
Das Policy Paper, verfasst von Matthias Hollick, Jens Ivo Engels, Cornelia Fraune, Bernd Freisleben, Gerrit Hornung, Michèle Knodt und Max Mühlhäuser (Mitglieder des LOEWE-Zentrums „emergenCITY“) ist unter einer Creative Commons Lizenz verfügbar. Zum Download: www.emergencity.de/s/pp1

Quelle: TU Darmstadt


Teilen