Mithilfe neuer Berechnungen lassen sich die Eigenschaften von fast 700 Isotopen zwischen Helium und Eisen vorhersagen. Sie zeigen, welche Atomkerne existieren können und welche nicht. In einem Beitrag in Physical Review Letters berichten Wissenschaftler der TU Darmstadt, der University of Washington, des kanadischen Forschungszentrums TRIUMF und der Universität Mainz, wie sie erstmals einen großen Bereich der Nuklidkarte basierend auf der starken Wechselwirkung simulierten.
Atomkerne werden durch die starke Wechselwirkung zwischen Neutronen und Protonen zusammengehalten. Etwa zehn Prozent der bekannten Atomkerne sind stabil. Ausgehend von diesen stabilen Isotopen werden Kerne durch Hinzufügen oder Entfernen von Neutronen immer instabiler, bis Neutronen sich nicht mehr an den Kern binden können und „heraustropfen“. Diese Grenze der Existenz, die sogenannte Neutronen-„Dripline“, wurde experimentell bislang nur für leichte Elemente bis Neon entdeckt. Das Verständnis der Neutronen-Dripline und der Struktur neutronenreicher Kerne spielt auch eine zentrale Rolle für das Forschungsprogramm der zukünftigen Beschleunigeranlage FAIR am GSI Helmholzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt.
In einer neuen Studie „Ab Initio Limits of Nuclei“, die im Journal Physical Review Letters als Editors‘ Suggestion mit einer begleitenden Synopsis in APS Physics erschienen ist, gelang es Professor Achim Schwenk von der TU Darmstadt, der auch Max Planck Fellow am MPI für Kernphysik in Heidelberg ist, gemeinsam mit Wissenschaftlern der University of Washington, des TRIUMF und der Universität Mainz, die Grenzen von Atomkernen mit Hilfe innovativer theoretischer Methoden bis zu mittelschweren Kernen zu berechnen. Die Ergebnisse sind eine Fundgrube an Informationen über mögliche neue Isotope und liefern einen Fahrplan für Kernphysiker, um diese zu verifizieren.
Die neue Arbeit ist nicht der erste Versuch, den extrem neutronenreichen Bereich der Kernlandschaft theoretisch zu erforschen. Frühere Untersuchungen nutzten die Dichtefunktionaltheorie, um gebundene Isotope zwischen Helium und den schweren Elementen vorherzusagen. Professor Schwenk und seine Kollegen hingegen erstellten nun erstmals die Nuklidkarte auf der Basis der ab initio Kerntheorie. Ausgehend von mikroskopischen Zwei- und Drei-Teilchen-Wechselwirkungen lösten sie die Vielteilchen-Schrödinger-Gleichung, um die Eigenschaften von Atomkernen von Helium bis Eisen zu simulieren. Dies gelang durch die Verwendung einer neuen ab initio Vielteilchen-Methode – der In-Medium Similarity Renormalization Group –, kombiniert mit einer Erweiterung, welche teilweise gefüllte Orbitale behandeln kann, um alle Kerne zuverlässig zu bestimmen.
Ausgehend von Zwei- und Drei-Nukleonen-Wechselwirkungen basierend auf der starken Wechselwirkung, der Quantenchromodynamik, berechneten die Forscher die Grundzustandsenergien von fast 700 Isotopen. Die Ergebnisse stimmen mit früheren Messungen überein und dienen als Grundlage für die Bestimmung der Lage der Neutronen- und Protonen-Dripline. Durch Vergleiche mit experimentellen Massenmessungen und eine statistische Analyse konnten auch theoretische Unsicherheiten für die Vorhersagen bestimmt werden, etwa für die Separationsenergien der Atomkerne und so auch für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Isotop gebunden ist oder nicht existiert.
Die neue Studie ist ein Meilenstein im Verständnis, wie die Nuklidkarte und Kernstruktur aus der starken Wechselwirkung entstehen. Dies ist eine Schlüsselfrage des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs 1245 „Atomkerne: Von fundamentalen Wechselwirkungen zu Struktur und Sternen“ an der TU Darmstadt, im Rahmen dessen die Forschungsarbeit entstand. Als nächstes wollen die Wissenschaftler ihre Berechnungen auf schwerere Elemente ausweiten, um den Input für die Simulation der Synthese schwerer Elemente voranzutreiben. Diese verläuft in neutronenreichen Umgebungen in Richtung der Neutronen-Dripline und findet in der Natur beim Verschmelzen von Neutronensternen oder in extremen Supernovae statt.
Publikation: https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.126.022501
Quelle: TU Darmstadt