Lipide begrenzen Saugkraft der Pflanzen: Modelle bestätigen Beobachtungen – Limit bei Wassertransport liegt bei minus 100 bar

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Mittels Unterdruck saugen Pflanzen Wasser aus der Erde. Weshalb der Wert des Drucks dabei etwa minus 100 bar nicht unterschreitet, war bislang ein ungelöstes Rätsel. Eine interdisziplinäre und internationale Forschungsgruppe unter Beteiligung der TU Darmstadt berichtet nun in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), dass offenbar so genannte Lipidaggregate in den Pflanzensäften für das Phänomen verantwortlich sind. Simulationen und Modellrechnungen zeigen, wie sich auf Grund der Lipide wachsende Hohlräume bilden, die die Flüssigkeitssäule bei zu großen Unterdrücken abreißen lassen.

Hydraulische Systeme nutzen Druckunterschiede zur Signal-, Kraft- und Energieübertragung. Etliche Maschinen funktionieren auf Basis dieses Prinzips – aber auch in der Natur findet sich dafür ein prominentes Beispiel: die Wasseraufnahme von Pflanzen. Die Saugkraft der Wurzeln beruht dabei auf dem Unterdruck in den pflanzlichen Versorgungskanälen, der durch die Wasserverdunstung an den Zellwänden der Blätter entsteht.

Das pflanzliche Hydrauliksystem nennen Experten „Xylem“ – ein Zellgewebe durchzogen von winzigen Leitungsbahnen, in denen Wasser und Mineralstoffe durch die Pflanze fließen. Der Unterdruck liegt in diesem Netzwerk typischerweise zwischen minus 5 und minus 50 bar. Die stärksten Unterdrücke von etwa minus 80 bar erreichen Wüstenpflanzen. Weshalb aber die Grenze von etwa minus 100 bar in der Regel nicht unterschritten wird, darauf gab es bisher keine schlüssige Antwort. Denn: Physikalische Gründe schienen grundsätzlich nicht gegen stärkere Unterdrücke zu sprechen. Und für die Pflanze wäre eine höhere Saugkraft von Vorteil, könnte sie doch effektiver Wasser aus trockenen Böden ziehen.

Ein interdisziplinäres Forscherteam aus Botanikern und Physikern des Jožef-Stefan Instituts in Ljubljana, des Max-Planck-Instituts für Kolloid und Grenzflächenforschung in Potsdam, der Freien Universität Berlin, der Universität Ulm, der Technischen Universität Darmstadt und der California State University Fullerton, USA, hat nun eine Erklärung geliefert: Mit Hilfe von Simulationen auf atomarer Ebene konnten die Wissenschaftler zeigen, dass offenbar wasserunlösliche Naturstoffe, sogenannte Lipide, in den Pflanzenflüssigkeiten für das Phänomen verantwortlich sind. Bei Unterdruck sorgen sie für die Bildung schnell expandierender Hohlräume – Fachleute sprechen von Kavitäten. Werden diese zu groß, reißt die Wassersäule ab. Die Stärke der maximal tolerierbaren Unterdrücke wird dadurch dramatisch reduziert, von mehr als minus 1000 bar in reinem Wasser auf weniger als minus 100 bar in den Pflanzensäften. Der Wert, den die Modelle vorhersagen, stimmt mit den stärksten in der Botanik gemessenen Unterdrücken hervorragend überein, berichten die Forscher.

Lipide dienen in lebenden Organismen hauptsächlich als Strukturkomponenten in Zellmembranen, als Energiespeicher oder als Signalmoleküle. Aus jüngeren biochemischen Untersuchungen weiß man, dass solche Lipide als Lipiddoppelschicht auch in wässrigen Lösungen im pflanzlichen Gefäßsystem vorkommen.

In ihrer Arbeit kombinierten die Forscher umfangreiche atomistische Computersimulationen der Molekulardynamik mit Modellrechnungen zur Entstehungsrate von Kavitäten. Damit konnten sie aus mikroskopischen Vorgängen Aussagen zum Verhalten auf biologisch relevanten Längen- und Zeitskalen treffen.

Temperaturbedingte Bewegungen von Wassermolekülen sorgen für winzige Hohlräume in der Flüssigkeit, die sich allerdings normalerweise durch die Kohäsionskräfte des Wassers rasch wieder schließen.  Aus diesem Grund widerstehen Wassersäulen vergleichsweise hohen Zugkräften, ohne zu reißen. Die Anwesenheit der Lipide bewirkt nun allerdings, dass deutlich einfacher Hohlräume entstehen können, die rasch anwachsen, statt sich wieder aufzulösen. „Vereinfacht ausgedrückt ist es viel leichter zwei Lipidschichten auseinanderzureißen als eine Gruppe von Wassermolekülen“, erklärt Emanuel Schneck, Professor für Physik biologischer weicher Materie am Fachbereich Physik der Technischen Universität Darmstadt und bis vor kurzem noch Forscher am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam.

Die Simulationen offenbarten, dass sich auf Grund der Lipidaggregate bei Unterdrücken von mehr als minus 100 bar sehr häufig Kavitäten formen. Bei den in Pflanzen typischerweise vorherrschenden Unterdrücken von minus 5 bis minus 50 bar passiert das hingegen so gut wie nie. Die Forscher stellten außerdem fest, dass kleine, wasserlösliche Bestandteile des Pflanzensaftes kaum die Bildung von Kavitäten begünstigen. Offenbar beruht also das in der Pflanzenwelt beobachtete Drucklimit tatsächlich auf den zusammengelagerten Lipiden. „Unsere Ergebnisse liefern zum ersten Mal eine plausible Erklärung dafür, weshalb Unterdrücke von mehr als minus 100 bar von Pflanzen nicht lange aufrechterhalten werden können“, so Schneck.

Matej KanduÄ, Physiker am Jožef Stefan Institute in Ljubljana, Slowenien und Erstautor der Studie, merkt an, dass die Ergebnisse auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel von Interesse seien. „Die größten negativen Drücke in Pflanzen findet man in Gegenden, wo Wasserknappheit herrscht“, berichtet er. Und bedingt durch den Klimawandel trocknen in immer mehr Regionen der Erde die Böden aus. „Wasser muss dort gegen den größten Widerstand aus dem Boden gezogen werden“, so KanduÄ.

Die Publikation:
KanduÄ, M. ; Schneck, E. ; Loche, P. ; Jansen, S. ; Schenk, H. J. ; Netz, R. R.: Cavitation in lipid bilayers poses strict negative pressure stability limit in biological liquids, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America

Quelle: TU Darmstadt


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