In Deutschland leben derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen sind an Alzheimer erkrankt. Prognosen zufolge werden die Zahlen deutlich steigen. Forschende der Hochschule Darmstadt (h_da) arbeiten in einem von der EU geförderten Projekt derzeit gemeinsam mit Partnern in den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland an neuen KI-Methoden in der Alzheimer-Diagnose. Ihr Ziel ist es, die Krankheit früher erkennen und erfolgreicher behandeln zu können, sobald entsprechende Medikamente auf den Markt kommen.
Die Forschenden haben sich vorgenommen, die Alzheimer-Diagnostik neu auszurichten. Ihr Projekt „ASPIRE“ („Arterial spin labelling scanner- and patient-independent robust diagnostic evaluation“) soll langfristig die Therapiechancen für an Alzheimer erkrankte Menschen verbessern. Physikprofessor Johannes Gregori und Mathematikprofessor Andreas Weinmann von der h_da kooperieren hierfür mit dem Universitätsklinikum Amsterdam, dem Heidelberger Unternehmen Mediri, das sich auf medizinische Bildgebung spezialisiert hat, und dem britischen Medizintechnik-Hersteller Gold Standards Phantoms.
Alzheimer wird heute meist – zusätzlich zu kognitiven Tests sowie Labortests auf das Auftreten krankheitsspezifischer Proteine – durch klassische MRT-Aufnahmen des Gehirns diagnostiziert. Dieses Standard-Verfahren bildet den Status quo des Gehirns ab. Eine zuverlässige Methode, aber noch nicht das Optimum: „Veränderungsprozesse im Gehirn erkennt man auf dieses Weise erst recht spät“, erläutert Prof. Dr. Johannes Gregori.
Das Forschenden-Team der h_da beschäftigt sich deshalb intensiv mit dem Diagnose-Verfahren ASL (Arterial Spin Labeling). Im Gegensatz zur etablierten Positronen-Emissions-Tomographie (PET) hat ASL Vorteile: Das Verfahren ist um ein Vielfaches billiger, kommt ohne Kontrastmittel aus und kann ebenfalls früh Hinweise auf eine Erkrankung liefern. ASL ist eine spezielle Variante des MRT, bildet aber keinen statischen Zustand ab, sondern die Veränderungen des Blutflusses im Gehirn: Wie viel Blut fließt rein und raus – und wie schnell? Auch diese Parameter können Indikatoren für eine sich anbahnende Alzheimer-Erkrankung sein.
Es ist diese bislang noch wenig genutzte Methode, die in Kombination mit einem KI-System zum neuen „Gold-Standard“ in der Alzheimer-Diagnostik werden könnte. „An gesunden Personen oder Patienten ohne Symptome würde man teure und belastende Untersuchungen im Normalfall nicht machen“, sagt Gregori. „Die deutlich günstigeren ASL-Untersuchungen könnten sogar Bestandteil routinemäßiger Screening-Untersuchungen in jüngeren Jahren werden.“
Noch gibt es bei Alzheimer keine Hoffnung auf eine Heilung, es wird aber weltweit an Wirkstoffen geforscht. Leqembi bzw. Lecanemab, das 2023 in den USA für die Alzheimer-Therapie zugelassen wurde, kann das Fortschreiten der Erkrankung in einem frühen Krankheitsstadium verzögern. „Sobald eine wirksame Alzheimer-Therapie verfügbar ist, muss man möglichst frühzeitig die Krankheit entdecken können, um dann die Behandlung zu beginnen. Daran arbeiten wir. Auch wenn das im Moment für die allermeisten Betroffenen noch ferne Zukunft ist“, erläutert Prof. Dr. Johannes Gregori.
Doch wie früh ist ‚möglichst früh‘? „Sechs Jahre“, sagt Gregori. „Schon sechs Jahre vor der finalen Diagnose kann es Hinweise darauf geben, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Alzheimer-Erkrankung entwickeln wird.“ Möglich macht das schon heute die KI-gestützte Auswertung der oben beschriebenen PET-Bilder. Dasselbe oder ein noch besseres Ergebnis strebt das h_da Team nun mit den gesundheits- und kostenschonenden ASL-Scans an.
Konkret möchten die Forschenden erreichen, dass ASL-Bilder genauso zuverlässige Alzheimer-Diagnosen liefern wie die heutigen Standard-Methoden. Das ist aktuell noch herausfordernd. „ASL-Bilder sind nicht so leicht zu bekommen, weil die Methode noch relativ neu ist. Außerdem müssen diese Bilder aufwändig vorverarbeitet werden, damit wir sie nutzen können“, sagt Prof. Dr. Johannes Gregori. Denn im Vergleich zu anderen Methoden, sind die Mess-Schwankungen bei ASL sehr hoch. Das heißt, bei verschiedenen Aufnahmen vom selben Patienten können die Bilder sehr unterschiedlich aussehen: „Ob jemand vor der Untersuchung Kaffee trinkt oder raucht, sich bewegt oder nicht macht Unterschiede in der Durchblutung.“ Umso komplexer ist es, aus den Daten die für Alzheimer typischen Merkmale herauszulesen.
Deshalb kommt hier die Künstliche Intelligenz ins Spiel. Das Prinzip: Die KI erkennt in Bildern die für eine Alzheimer-Erkrankung charakteristischen Muster und macht auf dieser Basis einen Diagnose-Vorschlag – Alzheimer, nicht Alzheimer oder eine Zwischenform. Das vom h_da-Team entwickelte und mit immensen Datenmengen trainierte KI-System erledigt diese Aufgabe mit MRT- und PET-Daten bereits sehr gut. Ein erster Erfolg für die Darmstädter Wissenschaftler. Der nächste Schritt ist die Übertragung dieser Leistung auf die ASL-Daten. „Das ist der Punkt, an dem wir uns auf wissenschaftliches Neuland begeben – und wo die größte Herausforderung liegt“, sagt KI-Experte Prof. Dr. Andreas Weinmann.
Wissenschaftliches Neuland bedeutet auch: Das Team arbeitet mit Technologie auf höchstem Niveau. „Wir nutzen ein sogenanntes Transformer-Modell“, erläutert Weinmann. „Die Ergebnisse, die es liefert, sind vergleichbar und teilweise besser als das, was medizinisch State of the Art ist. Ich sehe nicht, wie das mit klassischen Methoden erreichbar ist.“ Der „Transformer“, den die Forschenden nutzen, analysiert Bilder mit ähnlicher Methodik wie ChatGPT Texte erzeugt – oder auch wie das Programm DALL-E, das aus gesprochenen Sätzen Bilder generiert. Die ersten Ergebnisse präsentiert das h_da-Team auf der internationalen wissenschaftlichen Fachtagung ISMRM im Mai in Singapur. Weitere Ergebnisse wurden bereits eingereicht, geplant ist eine Präsentation im Oktober auf der MICCAI-Konferenz in Marokko.
Quelle: Hochschule Darmstadt