Keramik 2.0 – Materialwissenschaftler der TU Darmstadt wollen den Werkstoff neu erfinden

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Professor Jürgen Rödel hat zum ersten Mal für die TU Darmstadt ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Reinhart-Koselleck-Projekt eingeworben. Mit dem Programm werden besonders innovative und im positiven Sinne risikobehaftete Forschungsprojekte ausgezeichnet. Dafür stehen für einen Zeitraum von fünf Jahren 1,25 Millionen Euro zur Verfügung. Das Ziel der Wissenschaftler: den Werkstoff Keramik neu erfinden.

Bei Keramik denkt man an Geschirr oder scharfe Messer. Aus dem harten wie spröden Material lasse sich aber noch viel mehr herausholen als die schon bekannte riesige Auswahl etwa an Sensoren oder Kondensatoren, findet Professor Jürgen Rödel vom Fachgebiet für Nichtmetallisch-Anorganische Werkstoffe der TU Darmstadt. Er sucht nach neuen Anwendungen der aus vielen winzigen Kristallen bestehenden Materialien (Polykristalle). Rödels Ansatz scheint zunächst paradox. Der Materialforscher will Keramiken verbessern, indem er ihren atomaren Aufbau stört. „Allerdings wollen wir das kontrolliert tun“, sagt er. Sein Team konzentriert sich auf eine Art von Kristalldefekten, deren Herstellung für Metalle zwar trivial, für harte Keramiken bislang aber kaum denkbar schien.

„Wir nutzen dafür Verfahren, die weder Chemiker noch Physiker verwenden“, erklärt Rödel. Dazu gehört die mechanische Verformung von Keramiken unter kontrolliertem Druck und kontrollierter Temperatur. Da die Darmstädter zudem die Methoden zur Charakterisierung der Materialien beherrschen, sehen sie sich als ideale Experten für die Aufgabe. Einige Arten von Kristalldefekten sind gut erforscht. Einer davon ist das Fehlen eines Atoms im sonst regelmäßig geformten Kristallgitter. Ein solcher „Punktdefekt“ ähnelt einem leeren Platz in einem sonst vollen Kino. Punktdefekte erhöhen die elektrische Leitfähigkeit von Halbleitern in der Elektronik. Gut erforscht sind auch zweidimensionale Defekte. Das sind Flächen, die zwei Körner im Polykristall abgrenzen.

Der dazwischenliegende Fall eines eindimensionalen Defekts hingegen sei für Keramiken Neuland geblieben, da Chemie alleine nicht genüge, sagt Rödel. Bei so einer „Versetzung“ zieht sich eine Störung als gerade Linie quer durch den Kristall. Übertragen auf die „Kino“-Metapher wäre das eine leere Sitzreihe.

Versetzungen in Keramiken sind elektrisch geladen, was sie technisch interessant macht. Sie dienen als Kanal für elektrische Ladung und erhöhen somit die elektrische Leitfähigkeit. Da sie gleichzeitig die Ausbreitung von Wärme bremsen, eignen sie sich für „Thermoelektrika“. Diese Materialien wandeln Abwärme in Strom um. Rödel nennt einen weiteren, zur Erhöhung der Effizienz von Brennstoffzellen nutzbaren Effekt: „An den Enden der Versetzungen, also an der Kristalloberfläche, kann Sauerstoff ein- oder ausgebaut werden.“ Zudem bleiben Versetzungen bis 500 Grad Celsius stabil, während sich Punktdefekte schon bei rund 100 Grad bewegen.

Voraussetzung für die technische Nutzung ist es, Versetzungen planvoll in eine Keramik einzubringen. Das gelingt bislang kaum. Rödels Team will das ändern. „Wir versuchen, eine möglichst hohe  Dichte an Versetzungen in Keramiken zu erzeugen“, so Rödel. Eine der Herausforderungen ist es, die optimale Temperatur, elektrische Spannung und andere Parameter für die mechanische Verformung zu finden. „Das Ergebnis ist noch offen.“ Aber es geht voran: Die ersten Partner in seinem Netzwerk arbeiten an versetzungsbestimmter Photovoltaik in England und an hochauflösender Elektronenmikroskopie in Japan.

Quelle: TU Darmstadt


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