Ein karger Raum. Stühle und Tische an den Wänden gestapelt, flexibel im Einsatz. Die Stühle und Tische haben schon so mancher Geschichte gelauscht. Pfarrheim wird das schlichte Haus genannt, das neben der Kirche zum Austausch einlädt. Ein Gebäude, einerseits aus Beton, andererseits in Zeltform. Einerseits etwas festes, andererseits Mobilität anmahnend.
Das Pfarrheim daneben setzt in seiner Schlichtheit den Mobilitätsgedanken fort. Und um Mobilität, Migration geht es hier ausdrücklich an jedem zweiten Dienstag im Monat um 17:30 Uhr – im Erzähl-Café „Menschen unterwegs“. Daß eine Gesellschaft unterwegs ist manifestiert sich vor allem in den Menschen, in Bewegung sind, innerhalb der Gesellschaft, heraus und hinein. Menschen, die unsere Gesellschaft erweitern, kommen hier zu Wort, erzählen von ihren Erfahrungen. Sie machen deutlich: Auch die Gesellschaft, in der wir leben, ist einerseits etwas festes, andererseits mobil, in Form und Ausprägung fließend, sich verändernd durch all die, die gehen und kommen.
Das Geschichten-Erzählen hat im letzten Quartal 2019 begonnen. Eine Flüchtlingsgeschichte stand am Anfang, 2017 aus der Türkei nach Deutschland. Wie das autoritäre türkische Regime Widerspruch verfolgt. Auch Menschen, die zum Arbeiten eingewandert sind, tragen oft noch einen familiären Flucht-Hintergrund mit sich. Drei von vier Großeltern der nächsten Erzählerin aus Polen sind in Ost-Polen aufgewachsen, das nach dem zweiten Weltkrieg Weißrussland zugeschlagen wurde. Das hatte eine gesteuerte Umsiedlung der Polen aus diesem Gebiet in die neuen westpolnischen Gebiete zur Folge, ehemals Pommern, und Ober-Schlesien. Einer der Großväter aber traute dem Frieden nicht, argwöhnte deutschen Revisionismus und verzog mit seiner Familie in die Mitte des neuen Polens, südlich von Warschau. Sie selbst studierte Germanistik als das kleinere Übel gegenüber Slawistik mit Russisch und wanderte 2013 nach Deutschland aus, mangels finanzieller Existenzmöglichkeiten in Polen.
Dramatischer ist die Flucht-Geschichte der Familie der griechischen Erzählerin, deren Vorfahren sog. Pontos-Griechen von der türkischen Schwarzmeer-Küste waren. Sie wurden 1923 nach dem griech.-türkischen Krieg aus der Türkei vertrieben und flohen über die Ukraine nach Griechenland. Als ev. Christinnen und Christen war ihre Familie noch dazu eine Minderheit in der Minderheit. Eine Generation weiter war die Familie, wie viele andere, wieder unterwegs: „Das halbe Dorf war schon in Deutschland“. Also kam auch sie, als Kind, Anfang der 1960iger Jahre nach Deutschland.
Solchen Geschichten zuzuhören bereichert. Sie schaffen Verständnis für „Menschen unterwegs“, für die andauernde Veränderung von Bevölkerungen, Gesellschaften, und nicht zuletzt für Geschichte. Solches Verständnis benötigen wir immer mehr, je deutlicher Menschen mobil sind. Auch aus Deutschland sind in den letzten 10 Jahren 1,8 Mio. Deutsche ausgewandert, als Wirtschaftsmigranten, auf der Spur des besseren Verdienstes. Das Erzähl-Café will für Migration größeres Bewußtsein schaffen. Auch im Jahr 2020. Dann werden die Geschichten der Migration fortgesetzt, mit einer türkisch-deutschen Tochter muslimischer Migranten aus der Türkei, dann ebenfalls aus der Türkei, mit einer Erzählerin aus der uralten aramäisch-christlichen Tradition der südöstlichen Türkei, im März wird eine mongolische Migration Thema sein, und danach, im April, erzählt ein ehemaliges Flüchtlingskind aus den vormals deutschen Ostgebieten.
Erzähl-Café immer am 3. Dienstag im Monat, ab 17:30 Uhr, St. Fidelis, Feldbergstr. 27, Darmstadt. Erzählfreudige sehr willkommen. Kontakt borgetto [at] asylkreis-darmstadt [dot] de.
Quelle: Koordinationskreis Asyl Darmstadt und Region
http://asylkreis-darmstadt.de