Der Stachel des Skorpions

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Bild: Ein andalusischer Hund (Regie: Luis Buñuel, 1929, Filmstill) / Quelle: Deutsche FilminstitutDer Sommer 2014 wird surrealistisch! Das Institut Mathildenhöhe Darmstadt, das Museum Villa Stuck München und das Deutsche Filmmuseum Frankfurt kooperieren erstmals in einem bundesweiten Großprojekt zur Gegenwart und Geschichte des surrealistischen Films.

In zwei komplementären Ausstellungen wird mit «Der Stachel des Skorpions» und «Bewusste Halluzinationen» das Phänomen des filmischen Surrealismus untersucht.

Luis Buñuels Film L’ÂGE D’OR gilt als der zentrale Film des Surrealismus und als grundlegend für den Einzug des Mediums Film in die bildende Kunst. Sein Einfluss auf die zeitgenössische Kunst – insbesondere auf narrative Tendenzen der letzten Jahre – ist unübersehbar. Das Projekt Der Stachel des Skorpions sieht vor, dieses surrealistische Meisterwerk durch sechs aktuelle, internationale KünstlerInnen bzw. Künstlergruppen in Form eines filmischen Ausstellungsparcours neu zu interpretieren. Film als multimediale Ausdrucksform für die bildende Kunst fruchtbar zu machen, kennzeichnete bereits den Ansatz des surrealistischen Films unter Mitwirkung von Max Ernst und Salvador Dalí. L’ÂGE D’OR (1930) versuchte dabei, eine gesellschaftliche Wirksamkeit mit radikalen, teils skandalträchtigen Mitteln zu entfalten – unter besonderer Berücksichtigung eines durch die Imagination erweiterten Wirklichkeitsbegriffs.

Diese Merkmale kennzeichnen auch wesentliche aktuelle künstlerische Positionen. Sechs zeitgenössische bildende KünstlerInnen bzw. Künstlergruppen, die sich des Mediums Film bedienen, reagieren deshalb in Der Stachel des Skorpions jeweils auf eine der sechs heterogenen Episoden der filmischen Vorlage und setzen diese aus ihrer Sicht um. L’ÂGE D’OR lädt in besonderer Form zu diesem Vorgehen ein, da der Filmverlauf dem Konstruktionsprinzip eines Cadavre Exquis folgt und aus sechs einzelnen, lose verbundenen Gliedern bzw. Sequenzen besteht. Diese sind durch unterschiedliche inhaltliche sowie stilistische Merkmale gekennzeichnet, die für die Auswahl der beteiligten Künstler/innen entscheidend ist.

Der in Berlin lebende Fotograf Tobias Zielony wird sich mit der dokumentarisch anmutenden, abgründigen Skorpionszene des Filmanfangs auseinandersetzen. Die australisch-amerikanische Musik-Künstlergruppe Chicks on Speed entwickelt ihre Version heutiger Gruppenselbstdarstellung als Pendant zu der Banditenszene mit Max Ernst als surrealistischem Bandenchef. Das deutsch-luxemburgische Duo M+M taucht ein in die aktuellen Mysterien des alten Rom. Die israelische Videokünstlerin Keren Cytter knüpft an die eigentümlichen Liebessequenzen im Mittelteil von L’ÂGE D’OR an, was der in München lehrende Multimedia-Künstler Julian Rosefeldt an der Schnittstelle zwischen narrativem Film und komplexer Filminstallation aus seiner Sicht fortführt. Den Abschluss bildet der ebenfalls in Berlin lebende Aktionskünstler John Bock mit seiner Variation auf Buñuels De-Sade-Groteske.

In der Ausstellung werden die verschiedenen Sequenzen in einer skulpturalen Form, wiederum einem Cadavre Exquis entsprechend, miteinander verbunden zu einem begehbaren Film in sechs Räumen. Buñuel selbst hat in der ersten Filmszene dieses Konstruktionsprinzip der sechs zu einem Körper verbundenen Erzählungen hervorgehoben, indem er auf die sechs Glieder des Skorpion (-schwanzes) hinweist und den giftigen Stachel („l’humeur venimeuse“) am Schluss besonders betont. Dieser Sechsgliedrigkeit entspricht auch der Aufbau seines Films L’ÂGE D’OR mit dem giftig-humorvollen Schluss der De-Sade-Szene.

Die Surrealisten als eine der einflussreichsten Künstlergruppen des 20.Jahrhunderts knüpften hohe Erwartungen an die neue Gattung Film. 1930, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, versprach er, ein optimales Mittel für die politische Neuausrichtung der Gruppe zu sein. Aus heutiger Sicht scheinen sowohl die inhaltliche Ausrichtung, aber auch die damals erprobten Arbeitsstrategien des Films wieder ausgesprochen aktuell. Die international namhaften KünstlerInnen schaffen für die Ausstellung ein Gesamtkunstwerk, das skulpturale, performative, filmische oder auch musikalische Qualitäten miteinander vereint. Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen entsteht in gruppendynamischen Diskursen und gleichzeitig höchst individuell ein experimentelles Manifest, das den Begriff des „goldenen Zeitalters“ und die Radikalität des gleichnamigen Filmes von Buñuel auf die Probe stellt, der aufgrund seiner Inhalte 50 Jahre (bis 1982) Aufführungsverbot hatte und in dieser Zeit nur heimlich in Avantgardekreisen gezeigt wurde.

Die Besonderheit der Ausstellungspräsentation auf der Mathildenhöhe Darmstadt liegt darin, dass im Gegensatz zu den Innenräumen des Museums Villa Stuck in München hier eigens „Gehäuse“ für die Präsentation der Ausstellungsobjekte und Filmsequenzen geschaffen werden, und zwar auf dem Freigelände rund um das Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe. Die Inszenierung in Darmstadt greift insbesondere die radikale Segmentierung des Films als Strukturprinzip der Ausstellung auf und erschafft temporäre Orte der Kunstpräsentation, die spannungsvoll die Ergebnisse des hochkreativen Joint Ventures im Geiste und Sinne Buñuels vor Augen führen – einen ganzen Sommer lang und auch für Besucher, die vorrangig wegen der Strahlkraft der Leistungen der frühen Moderne ihren Weg auf die Mathildenhöhe Darmstadt finden. Zeitgleich zur Ausstellung Der Stachel des Skorpions präsentiert das Deutsche Filmmuseum Frankfurt mit Bewusste Halluzinationen: Der filmische Surrealismus eine umfangreiche Ausstellung zur Genese des Surrealismus im Film der 1920er und 1930er Jahre. Die Begleitprogramme werden wechselseitig aufeinander verweisen, weitere Projektpartner wie das Staatstheater Darmstadt, das Filmfestival go East in Wiesbaden und das Literaturhaus Frankfurt sind bereits in der Anfrage.

Die Ausstellung wird insbesondere ermöglicht durch die Kulturstiftung des Bundes und den Kulturfonds Frankfurt RheinMain.

In Darmstadt wird die Realisierung der Ausstellung Der Stachel des Skorpions von Studierenden im Studiengang Curatorial Studies des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Bern begleitet werden.

Die Ausstellungsdaten
Museum Villa Stuck München
20.3. – 8.6.2014
Institut Mathildenhöhe Darmstadt
22.6. – 5.10.2014

Die KünstlerInnen
Tobias Zielony (*1973 in Wuppertal), Deutschland
Chicks on Speed (Melissa Logan *1970 in Spring Valley, New York / Alex Murray-Leslie *1970 in Bowral bei Sydney), USA / Australien
M+M, (Marc Weis *1965 in Daun / Martin de Mattia *1963 in Rheinhausen), Deutschland
Keren Cytter (*1977 in Tel Aviv), Israel
Julian Rosefeldt (*1965 in München), Deutschland
John Bock (*1965 in Gribbohm, Schleswig-Holstein), Deutschland

Bild: Ein andalusischer Hund (Regie: Luis Buñuel, 1929, Filmstill) / Quelle: Deutsches Filminstitut
Quelle: Institut Mathildenhöhe Darmstadt


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